Verkehrte Welt

«Wir alle wissen, dass Nino vielleicht nicht hierbleiben darf», sagte der Lehrer. Alle Augen waren auf mich gerichtet. Ich wollte mich in Luft auflösen, fliehen, unsichtbar sein. Er schaltete den CD-Player ein und die Klasse sang im Chor «Ciao, Ciao Svizzera». In mir bildete sich ein Klos im Hals, trotzdem bewahrte ich die Fassung und sang mit. Ich wusste, dass mich die Blicke meiner Mitschüler immer wieder streiften, doch ich versuchte mir nichts anmerken zu lassen.

Einige meiner Mitschüler sammelten Unterschiften ein, damit ich in der Schweiz bleiben kann. Wie bringt ein elfjähriges Mädchen ihre Dankbarkeit zum Ausdruck? Ich war dankbar, aber ich bekam diese Art von Aufmerksamkeit, die mir unangenehm war. Die ganze Schule starrte mich an, wenn ich den Schulplatz betrat. Ich hörte die Kinder flüstern, wenn ich die Treppe hinaufging. Andere lachten und zeigten mit dem Finger auf mich. Womit hatte ich diese Aufmerksamkeit verdient? Ich hatte nichts dafür geleistet. Ich wollte sie nicht. Ich wollte doch bloss ein normales Kind mit einer normalen Kindheit sein. Muss ein Kind wirklich solche Sorgen haben und sich mit solchen Gedanken rumschlagen? Hätte ein Lehrer nicht anders handeln können, anstatt die Klasse ein Lied singen zu lassen, welches immer wieder Salz in die Wunde einer Schülerin streut? Ich war überfordert.

«Pass dich an und lerne fleissig.», sagte meine Mutter.

«Mach uns keine Schwierigkeiten, wir müssen uns integrieren.», sagte mein Vater.

«Es nervt, dass der Lehrer dich ständig erwähnen muss, wenn wir «Ciao, Ciao Svizzera» singen.», sagte Riccarda.

«Ich unterschreibe nicht dafür, dass sie hierbleibt.», sagte Veronika zu Tamara.

«Ich hoffe sie schicken dich zurück.», sagte Raul zu mir und die Jungs um ihn herum lachten im Chor.

«Misch dich da nicht ein, es geht uns nichts an!», sagte der Vater meiner Mitschülerin zu ihr, weil sie die Unterschriftensammlung für mich organisiert hatte.

Ich stellte mir viele Fragen und ich war wütend. Ich war wütend darauf, dass ich dieses Leben hatte. Waren diese Flucht und die Armut denn nicht genug?

»Kann ich endlich mal meine Ruhe haben?», fragte ich Gott. Doch der gab mir keine Antwort. Ich fühlte mich verantwortlich für diese Unruhe an meiner Schule, weil die Kinder untereinander sowie zuhause über mich sprachen. Es löste Diskussionen aus, die mir unangenehm waren.

Wem hätte ich sagen sollen, wie ich mich fühle? Meine Eltern waren ständig um die Situation besorgt und wollten einfach, dass ich ein braves Kind bin, das sich anpasst.

«Anpassen», ja wie sollte ich mich denn «anpassen», wenn diese Situation mich automatisch von den anderen unterschied? Wie sollte ich zu ihnen gehören, wenn sie mich schon als fremd wahrnahmen? Ich sah anders aus. Mein Name sorgte für Verwirrungen. Ich war wie in einer verkehrten Welt, in der ich versuchte, meinen Platz zu finden. Ich konnte nicht mit an den Ausflug nach Deutschland, weil meine Bewilligung das nicht zuliess. Ich konnte im Sommer nicht ans Meer oder überhaupt in Urlaub fahren. Selbst wenn ich es wollte und mir noch so sehr Mühe gab: Das Leben erinnerte mich ständig daran, dass ich anders bin.

Ich hasste Fragen wie «Wo kommst du her?», «Und wo ist Georgien?», «Wieso heisst du Nino?», «Was arbeiten deine Eltern?», «Wieso seid ihr hierhergekommen?», «Wollt ihr irgendwann in deine Heimat zurückkehren?»

Ich wurde immer nervös, wenn ich mit diesen Fragen bombardiert wurde. Was war richtig und was war falsch? Irgendwann wurde aus der Nervosität nur noch Wut.

Zu der Zeit öffnete ich manchmal unseren Medikamentenschrank und dachte darüber nach dem Ganzen ein Ende zu setzen. «Es wäre doch so einfach», dachte ich, «dann ist das alles endlich vorbei.» Ich war zwölf. Ein zwölfjähriges Mädchen, das sich Gedanken um Selbstmord machte. An so etwas sollte ein Kind niemals denken müssen.

Musik und das Schreiben halfen mir meine Wut zum Ausdruck zu bringen. Das gab mir Halt. Die Filme, die im Fernsehen liefen, gaben mir die Möglichkeit aus der Realität zu entfliehen und die Bücher, die ich las, stellten mir Helden vor, denen es so wie mir ergangen war. Alles was mir Kraft gab, hatte mit Kunst zu tun.

Nina Gadelia

Intensity









Ich weiss, ich habe dich verletzt. Aber auch mich habe ich verletzt. 

Vor mir war dieser perfekte Weg und ich selbst habe Steine zwischen uns gelegt. 

Was dachte ich mir bloss dabei? 

Ich habe viele Tränen vergossen, von dir geträumt und dich niemals loslassen können.

Ich habe jeden Tag an dich gedacht, und dabei mal geweint und mal gelacht. 

Das ist nun die Strafe für die Mauern, die ich selbst um mich errichtet hab. 

Das ist die Strafe für meine Angst, der ich so viel Macht gegeben hab. 

Die Strafe für meinen Stolz, der mir wichtiger als die Liebe zu dir war. 

Ich kann dir nicht wehtun, ohne mir selbst dabei wehzutun. 

Du gingst mir zu tief unter die Haut. 

Ich wünschte, ich hätte für dich da sein können. 

Ich hätte dich im Arm genommen und dir einen Teil deines Schmerzes abgenommen. 

Ich wünschte, ich hätte dich geheilt von deinen Wunden und wäre jetzt mit dir vereint.

Ich liebe dich

Nino Gadelia